Piaget und die Pädagogik

 

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1929 konnte Jean Piaget als ausserordentlicher Professor für Wissenschaftsgeschichte nach Genf zurückkehren. Von 1921 bis 1925 war als er als "chef de travaux" am Institut Jean-Jacques Rousseau (IJJR) tätig, musste dann aber gehen, weil zuwenig Geld vorhanden war. Damit Piaget 1925 in Neuenburg unterkam, wurde die Professur seines Lehrers Arnold Reymond geteilt. Pierre Godet, wie Piaget Sohn eines Professors von Neuenburg, übernahm die Geschichte der Philosophie, und Piaget unterrichtete Psychologie, Philosophie der Naturwissenschaften und Soziologie. Daneben verarbeitete Piaget die Beobachtungen seiner Kinder zu einer Entwicklungstheorie der frühen Kindheit und nahm seine experimentellen Studien mit den Mollusken wieder auf (die er trotz seiner Dissertation in diesem Gebiet seit zehn Jahren liegengelassen hatte), um eine neue Evolutionstheorie zu begründen. Gleichzeitig studierte er Wissenschaftstheorie und -geschichte und beschäftigte sich mit soziologischen und religionspsychologischen Theorien und der Moralentwicklung. Pädagogische Fragestellungen interessierten ihn erst, als er als Direktor des Bureau International d'Education (BIE) nach Genf zurückkam.

Das BIE wurde 1925 vom IJJR gegründet, nachdem Piaget Genf verlassen hatte. Seit 1880 hatte es mindestens 15 Initiativen zur Errichtung einer internationalen Erziehungsinstitution gegeben. Zwar hatte Adolphe Ferrière auf Anregung von Edmond Demolins bereits 1899 das Bureau International des Ecole Nouvelle (BIEN) gegründet, das zu einer wichtigen Dokumentationsstelle für reformpädagogische Schulen und Heime wurde, welche Ferrière nach einer Punkteliste bewertete. Aber 1918 zerstörte ein Brand einen Grossteil von Ferrières Archiv, und dem Alleinunternehmen fehlten die finanziellen Ressourcen, weshalb auch nur wenig publiziert werden konnte. 1923 wurde das BIEN deshalb in das IJJR integriert, nachdem man am 3. Internationalen Moralerziehungskongress in Genf 1922 (unter dem Vorsitz von Ferrière) die Gründung eines internationalen Erziehungsbüros in Den Haag beschlossen hatte. Im Einverständnis des Exekutivrates übernahm Ferrière im Herbst 1924 die Aufgabe, ein solches Büro in Absprache mit Institutionen des Völkerbundes zu organisieren. Aufgrund der Beschränkungen beim Völkerbund prellte das IJJR vor und beschloss die Gründung eines privaten Erziehungsbüros, nachdem die Laura Spelman Rockefeller Memorial Foundation Ende 1925 einen Beitrag von $5000 zusagte. Piaget gehörte zum Initiativkomitee des BIE, das in die Lokalitäten der IJJR an der 4, rue Charles-Bonnet integriert wurde. Um die Kontrolle der internationalen Institution zu sichern, legte man fest, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungsrates ihren Wohnsitz in Genf haben müssen. In Anbetracht der vollendeten Tatsachen hiessen die 400 Teilnehmer des 4. Internationalen Moralerziehungskongress in Rom 1926 den Transfer von Den Haag nach Genf gut. Genf zählte damit zu den bedeutendsten Zentren der Reformpädagogik, zusammen mit dem Teacher's College in New York (wo John Dewey, William Heard Kilpatrick und Edward Thorndike wirkten), dem London Day Training College (dem späteren Institute of Education in London von Percy Nunn) und der Haute Ecole de Pédagogie in Brüssel (mit Ovide Decroly).

Nach drei Jahren, in denen das BIE Ausstellungen, Kongresse und Konferenzen organisiert und Studien durchführt hatte, war es so hoch verschuldet, dass seine Existenz auf dem Spiel stand. Da Deutschland das BIE unter der Bedingung, dass es nach Berlin verlegt würde, finanzieren wollte, entschied sich die Rockefeller Stiftung zu einer weiteren Subventionierung, verlangte aber, dass daraus eine zwischenstaatliche Institution werde, um den nationalistischen Tendenzen zuvorkommen. Gleichzeitig gelang es dem 1928 zum Vizedirektor ernannten Pedro Rossello, den Kanton Genf zu überzeugen, das BIE auf anderer juristischer Basis mitzufinanzieren. Rossello wurde die treibende Kraft und der wesentliche Historiograph des BIE. Erneut wurden in Windeseile Tatsachen geschaffen, um den Widerstand des Völkerbundes und anderer Organisationen auszutricksen. Die Erziehungsministerien von Polen, Ecuador und dem Kanton Genf sowie das IJJR unterzeichneten am 25. Juli 1929 die Neugründung als intergouvernamentale Behörde.

Die Übernahme der Direktion des BIE stellte Piaget später so dar, als hätte er keinerlei Ambitionen gehabt: "En 1929 j'acceptai imprudemment la charge de directeur du Bureau international d'éducation, cédant à l'insistance de mon ami Pedro Rossello" (Piaget 1976: 17). Trotz seiner angeblichen Unvorsichtigkeit leitete er das BIE jedoch 39 Jahre lang, repräsentierte es auf den reformpädagogischen Kongressen und den Konferenzen des Völkerbunderbundes und der UNESCO, organisierte Forschungen, Publikationen und jährliche Konferenzen und schrieb dafür die summarischen Schlussberichte. Dies tat er in der Hoffnung "to contribute toward the improvement of pedagogical methods and toward the official adoption of techniques better adapted to the mentality of the child" (Piaget 1952/1: 131). Piaget wollte nicht bloss die 'Education nouvelle' mithilfe seiner Kinderpsychologie wissenschaftlich begründen, sondern auch ihre politische Durchsetzung auf internationaler Ebene fördern. Ein zweites Ziel war die Propaganda für den Völkerbund, um den Frieden zu sichern. Seit 1928 organisierte das BIE den Sommerkurs ‚Comment faire connaître la Société des Nations et développer l'esprit de coopération internationale' für Lehrer, Schuldirektoren, Inspektoren und Behördenmitglieder. Zudem wurden eine permanente Ausstellung und eine Sammlung von Kinderbüchern über andere Länder eingerichtet. Eine Befriedung der Welt ist nach Piaget ohne die Schule nicht denkbar.

Das zentrale Ziel des BIE bestand in der Beschaffung und Aufbereitung von Informationen, die den Erziehungsministerien helfen, Reformen im Sinne der Reformpädagogik und des Völkerbundes durchzusetzen: Verbesserung der Bildungssystems, internationale Kooperation und Friedenssicherung. Dazu wurden Erhebungen bei den Mitgliedsländern über den Zustand und die Bedingungen des Unterrichts und Studien durchgeführt.

Die ersten Untersuchungen behandelten
-die Beschäftigungen von Kindern, die vor 14 Jahren schulentlassen sind
-die Jugendliteratur
-die Beziehungen zwischen Schule und Familie
-die Familienerziehung
-‚self-government' und Gruppenarbeit
-Probleme aufgrund von Zweisprachigkeit

Alle vier Monate wurde ein Bulletin herausgegeben, das die Ergebnisse der Forschungen enthielt und die Arbeit dokumentierte. Fünf Jahre nach seiner Gründung war das BIE allerdings noch wenig bekannt, obwohl sich Piaget in reformpädagogischen Kreisen engagierte. Er war Mitglied des Verwaltungsrates der ‚New Education Fellowship' und hielt Vorträge an den letzten Kongressen der New Education in Helsingör/Dänemark (1929), Paris (1930) und Nizza (1932).

Dabei vertrat Piaget im wesentlichen die Positionen von Pierre Bovet, Edouard Claparède und Ferrière. Als wichtigstes Ziel der Erziehung bestimmte Piaget, dass selbstbestimmte, zur Kooperation fähige Persönlichkeiten herangebildet werden sollen: "Persönlichkeit ist der Gipfel der Sozialisation, Persönlichkeit ist das disziplinierte Ich, das zur mühseligen Herausbildung von Gesellschaft seinen Beitrag leistet, wohingegen das präsoziale Ich nichts weiter als das anomische Bewusstsein des Kleinkindes ist, das durch Erziehung gezähmt werden soll" (Piaget 1935/4: 185).

Das entsprach seinem eigenen Lebensstil und seinem calvinistisch geprägten Umfeld. Wie Emile Durkheim bestimmte Piaget die moralischen Regeln als Kitt der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird verstanden als Summe der sozialen Beziehungen und Handlungen, die sich in sozialen Organisationsformen konkretisieren. Die Soziologie wird also handlungstheoretisch begründet, wobei die Verhaltensregeln das Fundament der Gesellschaft bilden.

Durkheim beschrieb den Wandel von einer archaischen zu einer modernen Gesellschaft im wesentlichen als eine Entwicklung einer kollektivistisch-religiösen zu einer individualistisch-weltlichen Moral. Piaget übernahm nicht nur Durkheims Beschreibung des sozialen Wandels, sondern auch dessen Befürchtung, dass eine zu weitgehende Arbeitsteilung und zu schnelle Individualisierung die Existenz der Gesellschaft gefährde. Es sei deshalb "jetzt unsere erste Pflicht, uns eine Moral zu schaffen. Unser Gleichgewicht ist bedroht: wir müssen ein inneres Äquivalent für die dem Konformismus eigentümliche äussere Solidarität finden" (Piaget 1932: 387). Die zentrale Aufgabe der Familie liegt laut Piaget in der Moralbildung, denn wenn die Wertevermittlung nicht gelinge, drohe Egoismus und Individualismus. Für Durkheim war Moralerziehung im wesentlichen die Anpassung des Verhaltens an die sozialen Regeln mittels Zwang. Zwang sei der grundlegende soziale Tatbestand, da moralische Regeln einen objektiven, unpersönlichen und imperativen Charakter hätten. Piaget widersprach Durkheims Erklärung, dass die Moral über Zwang gebildet werde, weil damit die Entstehung des Pflichtgefühls nicht zu verstehen sei. Diese Theorie sei die Konsequenz von Durkheims fehlender Unterscheidung zwischen Realität und Ideal.

Piaget rekurrierte auf die 1925 von André Lalande getroffene Unterscheidung von tatsächlicher und idealer Gesellschaft: Die gelebten Sitten der Gesellschaft bilden die ‚konstituierten Regeln', die Piaget mit der Pflicht identifizierte. Sie beinhalten die von aussen an das Indiviuum herangetragenen Erwartungen, den sozialen Zwang. Dagegen verkörpern die ‚konstituierenden Regeln' das moralische Ideal. Dieses Ideal habe eine Wirkung auf die Realität, weil die Vernunft zum moralischen und intellektuellen Gleichgewicht hinstrebe. Entwicklung bedeute also moralischen Fortschritt. "So läutern sich allmählich die Sitten, indem sie von einem Ideal beeinflusst werden, das über der Sitte steht" (Piaget 1932: 76).

Disziplin hiess für Piaget also mehr als nur Anpassung an den äusseren Zwang. Sie ist die erfolgreiche Synthese der Eingliederung in die Gemeinschaft und der Einsicht in die Notwendigkeit der Normen und des gegenseitigen Respekts. Damit folgt Piaget der Sittenlehre Kants, wonach es eine rationale Begründung der Normen und die freiwillige Unterwerfung unter diese brauche. Dieses Ziel, autonome Bürger zu erziehen, sei bisher kaum erreicht worden: "Man weiss, wie wenig autonome Erwachsene es gibt, wie mangelhaft unsere Pädagogik ist, wenn man das Leben zum Kriterium nimmt" (Piaget 1928/2: 73). Schuld ist die autoritäre Erziehung: Da die Kinder gehorchen müssen, vernachlässigen sie ihr Reflexions- und Kritikpotential, und da sie die fertigen Lösungen der Erwachsenen übernehmen müssen, verkümmert ihre Kreativität. Ein weiteres Erziehunsziel muss also darin bestehen, kritische, kreative und eigenständige Forscher hervorzubringen.

Nun ging aber auch Piaget von einem zwangsläufig hierarchischen Verhältnis von Erzieher und Kind aus, was bewirke, dass das Kind nicht sich selbst sein könne, wenn Eltern oder Lehrer präsent sind. Zudem könnten diese die Kinder kaum verstehen, weil sich das kindliche Sehen und Denken vom Erwachsenen radikal unterscheidet, wie Piaget in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau postulierte: "L'enfant a des intérêts propres, une activité propre, une pensée propre, et, pour éduquer, il faut partir de là" (Piaget 1925/2: 464).

Der zentrale Fehler der traditionellen Pädagogik bestehe darin, dass sie "dem Kind eine identische geistige Struktur wie dem Erwachsenen, jedoch eine verschiedene Funktionsweise zuschrieb. […] Nun, genau das Gegenteil ist richtig" (Piaget 1939/3: 155f). Piagets Rousseauismus äussert sich auch darin, dass er von einer ursprünglichen psychologischen Neigung des Kindes zur Zusammenarbeit ausging. Dabei sei das Kind bei der Geburt jedoch noch kein soziales Wesen. Es werde erst sozial, indem das biologisch gegebene Verhalten von sozialen Einflüssen überlagert wird. Ist der ursprüngliche Solipsismus überwunden, unterliege das Kind zwei Sozialisationsfaktoren: dem Zwang, der Beziehung zwischen Individuen auf der Basis von Autorität oder Prestige, und der Kooperation, der Beziehung auf der Basis von Gleichheit. Den Ausgangspunkt für die Erziehung bilden also drei Gruppen von Gegebenheiten: der Autismus, der soziale Zwang und die Zusammenarbeit" (Piaget 1928/2: 66).

Die psychologische Ergänzung zu Durkheim fand Piaget bei seinem langjährigen Mentor Bovet. Im Gegensatz zu Immanuel Kant, der im Respekt ein Resultat des moralischen Gesetzes sah, betrachtete Bovet den Respekt als Voraussetzung der Moral. Der Respekt ensteht aus Furcht und Liebe und ist die Basis, damit Weisungen (‚consignes') als Regeln anerkannt werden. Die Summe der erhaltenen und akzeptierten Ge- und Verbote macht das Pflichtbewusstsein aus. Piaget differenzierte Bovets Theorie, indem er zwei Arten des Respekts unterschied: Der unilaterale Respekt ist ein Zwangsverhältnis, das die Eltern-Kind-Beziehung dominiert und nur zur Ausbildung einer oberflächlichen Moral führt. Der reziproke Respekt (zwischen gleichaltrigen Kindern) führe dagegen zur Entwicklung einer inneren, echten Moral. Diesen beiden Arten von Respekt entsprechen die heteronome Moral und die autonome Moral. Letzte wird dank der Kooperation selbst gebildet, was Piaget beim Murmelspiel untersuchte:
Das Regelbewusstsein entwickelt sich nach einem prämoralischen Stadium von der heteronomen zur autonomen Moral. Bis zum Alter von etwa 10 Jahren unterliegen die Kinder dem moralischen Realismus: sie halten die Regeln für heilig und unantastbar, orientieren sich bei Regelverstössen am objektiven Schaden und vernachlässigen die Intentionen. Erst ab 11 Jahren betrachten sie die Regeln als Resultat eines sozialen Vertrags, der dank gegenseitigem Respekt zustande kommt. Aufgrund der kooperativen und solidarischen Erfahrung mit Gleichaltrigen beginnen sich die Kinder dann an der Gleichheit und Gerechtigkeit zu orientieren.
Piaget verstrickte sich in zahlreiche Widersprüche, weil er den Zwang mit der Erzieher-Kind-Beziehung und die Kooperation mit den Peers identifizierte. Obwohl es keine Gleichheit mit den Eltern oder Lehrer geben kann, sollen diese etwa "Mitarbeiter und kein Lehrmeister sein" (Piaget 1932: 461). Zudem verstärke der Zwang den kindlichen Egozentrismus sowohl in intellektueller als auch in moralischer Hinsicht, auch wenn es den Zwang am Anfang braucht, um den primären Egozentrismus zu überwinden. Der moralische Zwang ist "von grosser praktischer Bedeutung, denn auf diese Weise bildet sich das elementare Pflichtbewusstsein und die erste normative Kontrolle, deren das Kind fähig ist, heraus" (ebd: 458). Die Eltern können gar nicht auf den Zwang verzichten, denn "on ne dirige des individus égocentriques que grâce à une contrainte externe" (Piaget 1933/2: 88). Aber da diese heteronome Moral dem Bewusstsein äusserlich bleibe und es nicht transformiere, brauche es in einem zweiten Schritt die Überwindung des Zwanges durch die Kooperation. "C'est malgré la contrainte adulte et non à cause d'elle, que l'enfant devient rationnel. C'est donc un processus de socialisation autre que la contrainte qui conduit aux normes" (Piaget 1928/3: 58). Entwicklung meint also den Übergang von der heteronomen Moral und dem Egozentrismus zur autonomen Moral und zur Objektivität, und diese kognitive Transformation gelinge nur dank dem "oeuvre salutaire de la coopération" (Piaget 1928/2: 75). Es braucht also einen moralischen und intellektuellen Paradigmenwechsel, den Piaget mit etwa 10 Jahren erwartet. Erziehung heisst daher im wesentlichen, Lernsituationen zu schaffen, in denen die Kooperation entstehen kann. Und es heisst, kontrafaktisch zu handeln: dem Kind so weit wie möglich von gleich zu gleich zu begegnen, obwohl das eigentlich nicht möglich ist. Die Erziehung ist also der entscheidende Faktor des gesellschaftlichen Wandels, denn es gibt "keine Moral ohne Moralerziehung" (Piaget 1930/4: 32).

Dass Piaget mit dem soziologischen Begriff des Zwangs die hierarchische Eltern-Kind-Beziehung bezeichnete, während die Beziehungen der Kinder untereinander egalitär und kooperativ seien, hat auch biographische Hintergründe: Die Härte seiner protestantischen Erziehung und die Erfahrungen im Jugendklub der Naturfreunde bildeten die beiden Beziehungsmodelle, aus denen er seine Moralbegriffe ableitete
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Auf die Schule bezogen sah Piaget diese pädagogischen Ideale in der‚école active' verwirklicht, etwa im 'Maison des petit' am IJJR. Bovet hatte 1919 den Begriff der ‚école active' geprägt, indem die Prinzipien der 'Arbeitsschule' (von Georg Kerschensteiner, Hugo Gaudig und Pavel Blonsky)‚ der 'méthode active' (von Henri Marion) und des problemorientierten Unterrichts (von Dewey) mit den Theorien der kindlichen Aktivität (von Herbert Spencer und William James) und der aktiven Selbstentwicklung (von Henri Bergson) kombinierte. Bovet plädierte für die Abschaffung der Schulbücher, die den Lernprozess auf den Konsum von vorverdautem Wissen reduzierten. Statt dessen sollten die Kinder mittels Materialen, Enzyklopädien, Wörterbüchern und Dokumenten selber forschen, wobei die Funktion des Lehrers, im Vertrauen auf die Natur des Kindes, auf die Stimulation begrenzt würde. Ferrière verarbeitete Bovets Idee in seinem Buch L'école active von 1920 zu einer expliziten Schultheorie, die auf grosses Interesse stiess und in 13 Sprachen übersetzt wurde. Piaget übernahm diese reformpädagogische Theorie und ihre Kritik an der erst vor kurzem erfolgreich implementierten öffentlichen Schule. Demnach gibt es zwei antagonistische, sich ausschliessende Erziehungsparadigmen:

aktives, spannendes Forschen <=> passive, langweilige Rezeption
neue, fortschrittliche Schule <=> alte, konservative Schule
schülerzentrierter, kooperativer Unterricht <=> lehrerzentrierter, autoritärer Unetrricht
verstandene Probleme <=> auswendig gelernter Stoff

Neben dem Postulat der inhärenten Aktivität (dem ‚élan vital' von Bergson) ist ‚Spontaneität' der zweite Schlüsselbegriff in Piagets pädagogischer Anthropologie. Das natürliche aktive und spontane Lernen manifestiert sich einerseits im kindlichen Spiel und andererseits im Experimentieren. Deshalb sollen die Schüler nicht durch Vermittlung (Erklärungen des Lehrers und aus Büchern), sondern durch Hypothesenbildung und Verifizieren lernen. Die traditionellen Schulen präsentierten "les connaissances à acquérir sans relation avec les intérêts de l'enfant, avec l'action proprement dite. Bien plus (et ceci accentue ce défaut de signification pour l'élève) elles les présente isolément et analytiquement. Il y a des leçons de grammaire, d'arithmétique, de géographie, etc., mais sans lien, sans que l'enfant comprenne ni les connexions intimes de ces branches entre elles ni par conséquent leur rapport avec la vie elle-même. Pour comble, l'horaire est morcelé: à chaque heure il s'agit de changer complètement d'orientation" (Piaget 1939/4: 4). Piaget wiederholte damit die Kritik (die in Genf seit Théodore Flournoy prominent vertreten wurde), gegenüber den Staatsschule, welche durch den dirigistischen und lehrerzentierten Unterrricht das Potential der Schüler vernachlässigen und unselbständige, ungebildete und autoritätsgläubige Menschen heranzüchten würden. Auch Piaget war gegenüber Lehrern und Eltern nicht zimperlich in seiner Wortwahl und beklagte die ‚grosse Anzahl der psychologischen Widersinnigkeiten der Eltern': Etwa die Blosstellung der Kinder, "die Vielfalt der Weisungen (die ‚Durchschnittseltern' sind wie die schlechten Regierungen, die sich auf die Anhäufung von Gesetzen beschränken, unbekümmert um deren Widersprüche und der aus dieser Anhäufung sich ergebenden wachsenden Geistesverwirrung), die Lust am Bestrafen, die Freude, von seiner Autorität Gebrauch zu machen und jener Sadismus, den man so oft, sogar bei den brävsten Menschen findet, die es sich zum Prinzip gemacht haben, dass man ‚den Willen des Kindes klein kriegen muss' oder, dass man ‚das Kind empfinden lassen muss, dass es einen höheren Willen als den seinen gibt'" (Piaget 1932: 217f). Eine optimale Förderung des Kindes gelinge nur, wenn man, wie er in Anlehnung an Francis Bacon schreibt, "‚die Natur lenkt, indem man ihr gehorcht', d.h. indem man den Erkenntnissen der Kinderpsychologie folgt" (Piaget 1931/3: 101). Das ist aber eine offensichtlich problematische Angelegenheit, denn der "Unterricht muss entwicklungspsychologisch zur rechten Zeit kommen, dann nämlich, wenn das Interesse des Kindes bereits da ist. […] Eine Lektion trägt in der Tat nur dann Früchte, wenn sie einem Bedürfnis entspricht, und sie entspricht nur dann einem Bedürfnis, wenn die Kenntnisse, die sie bringt, einer vom Kind erprobten und spontan erlebten Wirklichkeit entsprechen" (Piaget 1931/3: 78f). Erfolgreicher Unterricht kann nur das bewusst machen, was das Kind auf der praktischen Ebene schon kann. Der Lehrer muss also abwarten, bis das Kind etwas kann, um es dann zu thematisieren und zu konsolidieren. Der Erzieher in der Konzeption Piagets steht deshalb in einer paradoxen Situation, die Hans Aebli als "Kann-noch-nicht-Braucht-nicht-mehr-Antinomie" bezeichnete. "Wenn Piaget in seinen genetischen Untersuchungen nachweist, dass in einem bestimmten Alter eine Operation vorhanden ist, so braucht sie dem Kind nicht mehr beigebracht zu werden. Wenn die Operation aber noch nicht vorhanden ist, so kann sie ihm noch nicht beigebracht werden" (Aebli 1963: 88). Um diese paradoxe Situation zu lösen, empfahl Piaget eine möglichst ‚natürliche' Umgebung herzustellen. Es ist also nicht erstaunlich, dass der Unterricht bei Piaget nur einen beschränkten Einfluss auf die Entwicklung hat. Vor allem die Sprache und die ‚gewöhnlichen Arten des Denkens' werden durch die Umgebung als Ganzes festgelegt, ohne dass die Schule eine wesentliche Rolle spielt (1950 III: 179). Deshalb unterstützte Piaget die Einrichtungen wie die Pfadfinder oder die Ligue de Bonté.

Als Vorläufer der neuen Methode galten Piaget (1939/3, 1957/1) Sokrates, Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel und Herbart. Diese grossen Klassiker der Pädagogik hätten zwar keine adäquate Theorie der geistigen Entwicklung vorlegen können, aber die Aktivität und Eigenständigkeit des Schülers sowie die Klasse als echte Gemeinschaft betont. Damit hätten sie bereits intuitiv wahrgenommen, was die Psychologie des 20. Jahrhunderts systematisch ausarbeitete und empirisch überprüfte. Erst die genetische Psychologie enthalte eine "echte Embryologie der Intelligenz und des Bewusstseins" (Piaget 1939/3: 145) und begründe damit die neue Erziehung. Piaget konstruierte damit eine Geschichte der Pädagogik, die auf die Überwindung ihrer Unwissenschaftlichkeit durch die Psychologie hinausläuft. Als Meilensteine dieser Psychologisierung der Pädagogik betrachtete er James, Stanley Hall, Baldwin und Dewey in den USA, Bergson, Binet und Janet in Frankreich, die Würzburger Schule um Karl Bühler in Deutschland sowie Flournoy, Claparède und Bovet in der Schweiz. Verwirklicht worden sei die ‚Neue Erziehung' mit den individualisierenden Methoden von Maria Montessori in Italien, von Ovide Decroly in Belgien und am Maison des Petits des IJJR. Wichtige Impulse für die Entstehung dieser Methoden identifizierte Piaget auch in der amerikanischen ‚progressive movement': dem Daltonplan von Helen Parkhurst, der Schule in Winnetka unter der Leitung von Carleton Washburne und der von Dewey inspirierten Projektmethode.

Aber die Individualisierung sei nicht das einzige Prinzip, denn "tout appel à l'activité libre conduit nécessairement au travail par groupes ou au self government" (Piaget 1939/4: 10), also die Partizipation der Schüler an der Schulgestaltung. Autonomie und Gegenseitigkeit bildeten die beiden ergänzenden Aspekte der neuen Erziehung, weil hier die Kinder sich selbst ‚erziehen'. Das BIE untersuchte ab 1929 (veröffentlicht 1935) die Praxis der Gruppenarbeit, wobei 16 Länder von 518 Experimenten berichteten. Der Hauptvorteil dieser Methode liege im Erwerb der Arbeitstechnik und der besseren Lerneffizienz. Bei kleinen Kindern sei die Gruppenarbeit aufgrund der "verworrenen Kontakte" (Piaget 1939/3: 179) nicht möglich, sondern erst ab 8-10 Jahren. Piaget plädierte jedoch nicht für permanente Gruppenarbeit, sondern empfahl "die notwendige Ausgeglichenheit zwischen den kollektiven und den individuellen Aspekten der geistigen Arbeit" (Piaget 1965/1: 87). Was der Gruppenunterricht durch gegenseitige Anregung auf der intellektuellen Ebene bewirke, das soll Selbstverwaltung im sozialen und moralischen Bereich anstreben: durch das Aushandeln der eigenen Regeln und Sanktionen entwickelten die Schüler "une solidarité nouvelle, un sentiment de l'égalité et de la justice" (Piaget 1939/4: 13). Auch zum ‚Self government' publizierte das BIE 1934 eine Studie. In seinem Beitrag versuchte Piaget die Vielfalt der self government-Methoden zu strukturieren, indem er drei Anwendungsbereiche unterschied: zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Älteren und Jüngeren (wie bei den Pfadfindern) und im Führerprinzip unter Gleichaltrigen. Für Piaget war das Führerprinzip kein Widerspruch zur Idee des self-government. Sowohl die demokratischen wie die faschistischen Staaten könnten diese Methode in ihren Bildungssystemen einsetzen. Vier Jahre zuvor hatte Piaget diese Methode noch verknüpft mit dem "besoin d'égalité" (Piaget 1930/2: 57). Dieser öffentliche Positionswechsel Piagets hatte einerseits damit zu tun, dass sich die faschistischen Vertreter im BIE von den politischen Intentionen der Genfer distanzierten. Andererseits gab es in Genf selbst politischen Widerstand gegen die pädagogischen Ziele des IJJR.

Bevor Piaget nach Genf zurückgekommen war, hatte Robert Dottrens in seinem Buch Education nouvelle en Autriche die Schulreformen im ‚roten Wien' gelobt. Im Vorwort dieses Buches hatte Bovet den Vorbildcharakter Wiens für die Reform der Genfer Schule unterstrichen. Auch Piaget hatte beipflichtet, dass "l'idéal nous paraît être ce qui se passe à Vienne et que nous voudrions réaliser en Suisse" (Piaget 1928/3: 55). Das IJJR betrachtete die Schule als politisches Instrument zur Gesellschaftsreform, und die Revolutionsrhetorik liess bei Konservativen die Alarmglocken läuten. Sie kritisierten, dass die Versuchsschule des IJJR die Disziplin vernachlässige, das Institut spekulative Forschungen betreibe und sich als Propagandaorgan des ‚Roten Wiens' betätige. Trotz dieser Kritik wurde das IJJR 1929 als ‚Institut des sciences de l'éducation' an die Genfer Universität angegliedert und weiterhin subventioniert.
Die Auswirkungen des Börsencrashs 1929 und der folgenden Weltwirtschaftkrise führten auch in Genf zu einer hohen Arbeitslosigkeit und einer Radikalisierung der politischen Gruppierungen. Während einer Demonstration der Linken am 9. November 1932 erschoss die Armee 13 Personen und verwundete 62. Es habe sich um eine revolutionäre Verschwörung gehandelt, behauptete die Armee, worauf Bovet die Polizeiaktion heftig kritisierte. Kurz danach klagte der Bankier Gabriel Bonnet im Genfer Parlament das IJJR an, die Primarschulen mit subversiven Theorien verseucht zu haben. Die ‚neuen Methoden' seien für die mangelnde Disziplin der Jugendlichen verantwortlich, und der Internationalismus und Pazifismus des Instituts wurde als Bolschwismus gebrandmarkt. Nach einer langen Debatte gewährte das Parlament die weitere Subvention des Instituts nur unter der Bedingung, dass es sich ganz auf die Wissenschaft beschränke.
Nicht nur die Politiker distanzierten sich vom IJJR, auch die einst sympathisierenden Lehrer koppelten sich ab. Auf dem 12. Kongress der Lehrervereinigung, die zwölf Jahre zuvor das IJJR noch vor dem Ruin gerettet hatte, kam es zum offenen Bruch. Die Propagandisten der ‚école active' seien Theoretiker, die die Machbarkeit in der Praxis nicht beurteilen könnten, lautete der Hauptvorwurf. Aufgrund der Trennung musste Bovets Zeitschrift Intermédiairs des éducateurs, die als Teil der Lehrerzeitung L'Educateur erschien, aufgegeben werden. Sein Versuch, die Zeitschrift zu retten, stiess auf Piagets Widerstand, worauf sich Bovet verraten fühlte und die weitere Zusammenarbeit mit seinem Günstling verweigerte. Die Universität veranlasste die Einsetzung einer akademischen Kommission, um die Situation am IJJR zu untersuchen. Sie forderte, das IJJR solle seine Aktivitäten auf die wissenschaftliche Forschung und Lehre beschränken. Bovet betrachtete dies als Angriff auf die sozialpolitischen Leitideen des Instituts, während Piaget sich zusammen mit Dottrens gegen seinen langjährigen Mentor stellte und die Empfehlung der Kommission unterstützte. Piaget traf sich zudem mit einflussreichen Delegierten, um über diese die Reformen des Instituts durchzusetzen. Bovet bezeichnete Piaget daraufhin als Vertreter des "clan fasciste" (ms 7.3.33). Entgegen dem Wunsch Claparèdes trat Bovet von der Direktionsleitung des Instituts zurück, worauf Piaget zum Ko-Direktor des IJJR aufstieg.
Nach der Beilegung des Konflikts wurde das IJJR von Piaget, Bovet und Claparède gemeinsam geführt, wobei Piaget faktisch einen grossen Einfluss ausübte. Dies bewirkte, dass sich die Psychologie, die sich auf empirische Forschung konzentrierte, und die Pädagogik, die sich auf die Lehrerbildung spezialisierte, am Institut je länger je stärker von einander abkoppelten. Forschungsaufträge wurden hauptsächlich an die Psychologen vergeben, während die Pädagogen die Lehrfunktionen erfüllten. Piaget liess der Psychologie auf Kosten der Pädagogik mehr Geldmittel zukommen, weshalb die Forschungsprojekte und Kurse immer psychologischer und theoretischer wurden.

Piaget hoffte anfänglich zu Beginn der 30er Jahre noch, die ökonomische und politische Krise liesse sich mit der Erziehung überwinden: "Plus que jamais depuis la guerre notre civilisation est au point critique […] Plus que jamais la conviction s'impose que l'éducation seule remédiera au mal" (Piaget 1931/7: 42). Angesichts der politischen Entwicklung wurde es jedoch schwierig, an die Wirksamkeit der Friedenserziehung zu glauben. Drei Jahre später fragte er, ob man nicht besser ehrlich genug sein sollte, den Bankrott einer solchen Erziehung einzugestehen (Piaget 1934/3: 171). Kurz darauf gab er diese Hoffnungen auf und kümmerte sich kaum mehr um die Pädagogik.

Wie beim IJJR änderte Piaget auch das öffentliche Auftreten des BIE: Es sollte nicht mehr als Instrument der Education nouvelle, sondern als reines Informationsorgan wahrgenommen werden, "ohne für oder gegen irgendein erzieherisches Verfahren Partei zu ergreifen" (Piaget 1934/2: 148). Aus Angst, dass das BIE weiterhin als Propagandainstrument verstanden werden könnte, betonte Piaget die Gemeinsamkeiten der pädagogischen Probleme und Intentionen in den verschiedenen Ländern: "In der Tat, gleichgültig welches soziale Ideal man den Schülern einzuschärfen versucht, - vom individualistischen Liberalismus bis hin zu den autoritären Systemen - das Generationenproblem bleibt das gleiche" (ebd: 149). Mit dieser Betonung der Neutralität wollte Piaget die finanzielle Unterstützung sicherstellen. Zudem sollte die räumliche Trennung 1937 vom IJJR, als das BIE in den Palais Wilson zog, Unabhängigkeit demonstrieren. Das heisst nicht, dass sich Piagets politische Überzeugungen geändert hätten. Aber seine Angst um die Existenz der Institute veranlasste ihn zu einer opportunistischen Politik, so dass auch faschistisches Gedankengut unter dem Siegel des BIE kursierte. Kein Mitgliedsstaat wurde aufgrund seiner Politik gerügt oder ausgeschlossen, auch nach dem 2. Weltkrieg nicht. So wehrte sich Piaget 1964 gegen den Ausschluss Portugals wegen dessen Kolonialpolitik, indem er die Präsidentschaft der Versammlung abgab. Piaget hoffte, dass der Vergleich zwischen den Schulsystemen Mittel genug sein würde, damit die Nationen ihre Erziehungswesen verbessern würden. Dafür produzierte Vizedirektor Rossello von 1933 bis 1968 das Annuaire international de l'éducation. Diese Dokumentation enthielt die jährlichen Berichte der Erziehungsministerien, eine summarische Retrospektive und daraus abgeleitete Diskussionsvorschläge zuhanden des Exekutivrates des BIE, der damit die nächste Mitgliederversammlung vorbereitet. Aufgrund dieser Diskussionen wurden unverbindliche Empfehlungen zur Schulorganisation und Unterricht zuhanden der Regierungen der Mitgliedsstaaten verabschiedet.
Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs sassen die verfeindeten Mächte nicht mehr an einen Tisch, weshalb die Versammlung suspendiert wurde. Die Durchhalteparole im BIE lautete, vor allem für die Zeit nach dem Krieg zu arbeiten. "L'éducation constituera, une fois de plus, le facteur décisif" (Piaget 1940/1: 12).
Nach dem Krieg nahm das IBE seine Tätigkeit nach dem alten Verfahren wieder auf, obwohl 1947 ein Kooperationsvertrag mit der 1945 geschaffenen UNESCO geschlossen wurde. UNESCO-Generalsekretär Jaime Torrès-Bodet, ein enger Freund Piagets, bot ihm die Stellung als Generaldirektor der Erziehungsabteilung der UNESCO an. Um seine Forschung nicht zu vernachlässigen, übernahm er diesen Posten 1949/50 nur ad interim. Gleichzeitig wurde Piaget Mitglied des Exekutivrates der UNESCO und Präsident der schweizerischen Delegation an der UNESCO-Generalversammlung (1948-1953). Von 1946-68 beschloss die Konferenz auf der Basis der nationalen Berichte weitere 47 Empfehlungen, die Piaget als "Korpus von pädagogischen Doktrinen betrachtete, deren Wirkung man nicht unterschätzen kann" (Piaget 1970/11: ix).
Aber der ganze Prozess war ein Leerlauf. Die Befragung der Länder zu ihren Schulsystemen erbrachte geschönte Berichte, die vor Initiative und Optimismus strotzten. Die Zunahme der Mitgliedsländer verhinderte vertiefte Diskussionen. Die Empfehlungen des BIE hatten zudem keinen verbindlichen Charakter und ihre Umsetzung wurde nicht einmal weiter beobachtet. Die Bildungspolitik kümmerte sich schlicht nicht um die Empfehlungen aus Genf. Eine 1966 eingesetzte Kommission stellte fest, dass nicht nur das Geld, sondern auch die sich überscheidenden Funktionen von UNESCO und BIE geregelt werden müssten. Nur eine vernünftige Lösung bot sich an, die Fusion, wobei Piaget erreichte, dass das BIE trotz der Integration eine eigenständige Organisation innerhalb der UNESCO blieb. Piagets Nachfolger René Ochs wurde nur als Interimsdirektor gewählt, denn alle Beteiligten waren sich einig, dass ein weiteres unbefristetes Pontifikat nicht mehr vorkommen sollte (Stock 1979a: 121). 1968 trat Piaget auch als Direktor der IJJR zurück, das daraufhin direkt dem Rektorat der Universität unterstellt wurde.

Die meisten Artikel Piagets zur Pädagogik, die er nach dem Krieg verfasste, beschäftigten sich mit einzelnen Fächern, wobei die Kompatibilität zur Entwicklungspsychologie das Hauptthema war. Als Hauptprobleme der Mathematikdidaktik identifizierte Piaget die Passivität der Schüler, das verfrühte Operieren mit Zahlen, die verfrühte Abstraktion, der verbale Unterricht (Piaget 1949/6; 1950/1), die verfrühte Formalisierung (Piaget 1965/1), die verfrühte Einführung der Mengenlehre (Piaget 1966/12) und falsche Verknüpfungen, etwa bei der Einführung der Zahlen mit Farben (Piaget 1976/9). In der Naturkunde forderte er die Bewahrung der Einheit von Physik, Chemie und Biologie und die Anwendung der induktiven und aktiven Methode (Piaget 1949/5; 1952/8). Bei der klassisch-humanistischen Bildung plädierte er für eine engere Verbindung der Kulturgeschichte mit den Sprachen, die weniger grammatiklastig unterrichtet werden sollten (Piaget 1937/7). Die Geschichte sollte bei den spontanen Einstellungen ansetzen, ein Instrument der Kritik sein und eine Atmosphäre der Völkerverständigung schaffen (Piaget 1933/4). Der Kunstunterricht dürfe keinesfalls die Kreativität unterbinden, sondern müsse eine "Synthese zwischen dem Ausdruck des Ichs und der Unterwerfung unter die Realität" (Piaget 1954/16: 244) erzeugen. Die Philosophie befinde sich in einer Dauerkrise, weil die Teilgebiete sich abspalten, sobald sie ein wissenschaftliches Niveau erreichten. Da sie zwangsläufig einer Ideologie anhänge, solle sie Unterrichtslektionen an die Psychologie abgeben (Piaget 1972b: 90, 1965/1: 65).
Den Hauptgrund für die fehlende ganzheitliche Bildung sah Piaget in der Fächeraufteilung (Piaget 1960/2; 1972b), was zusammen mit der beunruhigenden Zunahme der Studentenzahlen und mit Überflutung der geisteswissenschaftlichen Fakultäten eine umfassende Revision des Bildungssystems notwendig mache. Diese Reform müsse den Ausbau der Vorschulerziehung, das Ende der verweichlichenden Erziehung und die Hochschulausbildung für alle Lehrer umfassen (Piaget 1972b: 72ff). Ohne Hochschulbildung könne man keine wissenschaftlichen Argumentationen erwarten. Nicht wenige Formulierungen enthielten aber ein Ressentiments gegen die Lehrer (bspw. Piaget 1944/1: 203; 1950 III: 212). In einem Überblick (Piaget 1965/1: 19) zählte er auf, dass fast alle grossen Pädagogen von Comenius bis Claparède einen anderen Beruf gehabt hatten. Nichtsdestotrotz war Piaget überzeugt, dass die Lehrer die künftige Gesellschaft prägen (Piaget 1949/6: 15). Dabei äusserte er hohe Ansprüche: der Lehrer soll, trotz den damals grossen Klassen, als Vermittler zwischen Kind und Welt Dokumentationen bereitstellen, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder zugeschnitten sind, Gelegenheit zur Zusammenarbeit, Diskussion, zum Experimentieren und Forschen bieten, die Interessen mit weitergehenden Fragen aufrechterhalten und intellektuelles, moralisches und soziales Vorbild sein (Piaget 1939/4: 4 ; 1948/9: 22).
Seine Hauptforderung war zumeist, dass die Lehrpersonen besser in Psychologie, und zwar in seiner Theorie, ausgebildet werden sollen. Da nur die Psychologie das Verständnis der Eigenlogik der Kinder ermögliche und sie die Basis für alle anderen Wissenschaften liefere, sei sie "impérialiste" (Piaget 1928/12: 261). Die Überlegenheit der Psychologie sah Piaget in ihrer Objektivität begründet, die der zwangsläufig normativen Pädagogik fehlt. Deshalb ist die Pädagogik nur eine Anwendung der Psychologie: "La pédagogie est un art alors que la psychologie est une science" (Piaget 1948/9: 22). Noch 1973 forderte Piaget (1973/15: 26) die experimentelle Schulung der Lehrer auf der Basis eines vertieften Studiums der genetischen Psychologie. In der zu schnellen Anwendung seiner Psychologie sah Piaget nämlich "the great danger. I have the impression that very few people have understood" (Piaget 1973: 52).

Piaget veröffentliche etwa 40 Artikel über Erziehung und ebensoviele Reden und Berichte im BIE. Obwohl diese rund 1000 Seiten umfassen (sie entsprechen allerdings nur 3% von Piagets Gesamtwerk), meinte er in einem Interview: "Je n'ai pas d'opinion en pédagogie" (Piaget 1977: 194). Nichtsdestotrotz hoffte er, mit seiner Psychologie das Schulsystem und damit die Gesellschaft zu verändern zu verändern (Piaget 1973: 53). Deshalb engagierte er sich im Rahmen des BIE und der UNESCO fast vierzig Jahre lang für eine reformpädagogische Bildungspolitik. Unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Neutralität versuchte er, auf die Minister und Beamten in den Bildungsinstitutionen Einfluss zu nehmen, damit diese liberale Reformen durchsetzen. Ob die Empfehlungen solche Reformen beförderten, ist schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich waren solche Effekte, wenn sie stattgefunden haben, eher zufällig.

Auch sein Versuch, mit seiner Psychologie zum Theoretiker der neuen Schule zu avancieren, scheiterte. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass er kein Buch über Pädagogik geschrieben hatte und sich seine Aussagen sich mit denjenigen von Claparède, Bovet und Ferrière weitgehend deckten. Jedenfalls hat sich sein Begriff der Kooperation nicht als Schlagwort durchgesetzt, im Gegensatz etwa zur ‚école active' von Bovet/Ferrière. Piagets Anmerkungen zur Pädagogik blieben zudem oberflächlich, und diese betrifft auch Schlüsselbegriffe wie denjenigen der ‚Kooperation'. Nirgends werden Bedingungen, genauere Definitionen oder Analysen diskutiert, obwohl er die Kooperation und damit die soziale Umwelt bis Mitte der 30er Jahre als entscheidenden Faktor in der moralischen und kognitiven Entwicklung betrachtete.

Mit der Biologisierung und Mathematisierung seiner Psychologie ab Mitte der 30er Jahre verlor der Erziehungsfaktor zugunsten der autonomen Entwicklung des Kindes an Bedeutung. Ab 1950 definierte Piaget vier Entwicklungsmechanismen: die Reifung, die physischen Erfahrungen, der soziale Einfluss und die Äquilibration. Letztere wurde, im Sinne der Eigendynamik der Entwicklung, in seinem Spätwerk immer wichtiger. Der kulturelle Wissenserwerb folgt dem allgemeinen Muster logisch-mathematischer Denkstrukturen, die sich aus dem Handeln mit konkreten Objekten von selbst bilden und nicht gelehrt werden können. "Learning is not a primary mechanism and cannot adequately explain development […] One can hold that along with the mechanism of learning the presence of which we have never denied, there are internal mechanism of development, endogenous mechanism such as the mechanism of equilibration" (Piaget 1970/13: 2). Lernen setzt demnach Entwicklung voraus und wird zu einem untergeordneten Faktor. "The development of knowledge is a spontaneous process, tied to the whole process of embryogenesis. […] Learning presents the opposite case. In general, learning is provoked […] by an external situation. It is provoked, in general, as opposed to spontaneous. In addition, it is a limited process - limited to a single problem, or to a single structure. So I think that development explains learning" (Piaget 1964/2: 20). Obwohl sich der Erkenntnisapparat selbst in der Auseinandersetzung mit der Welt konstruiert, folgt die Entwicklung einem universellen und invarianten Muster und wird durch die Erfahrung nicht wirklich beeinflusst. Dies ist das logische Resultat seiner Immanenztheorie.

Aufgrund der Lektüre von Léon Brunschvicgs ‚Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale' von 1927 hatte Piaget seine religiöse Überzeugung radikalisiert: "Dieu est pensée. Il n'est pas un être mais la condition de l'existence, et la condition de l'existence c'est la pensée" (Piaget 1928/1: 34). Gott manifestiert sich aber nicht im subjektiven Denken, sondern nur in den Normen des logischen Denken. "L'immanentisme revient à identifier Dieu, non pas au moi psychologique, mais aux normes de la pensée elles-mêmes" (ebd: 36), welche universell und unpersönlich seien. "Au point de vue intellectuel, le moi est soumis aux normes de la raison […] Elles s'imposent au moi dès que l'individu renonce à l'affirmation personnelle pour se plier à l'objectivité. Du point de vu moral, le moi est également soumis à des normes, comme la réciprocité ou la justice. Ce sont là les normes rationnelles elles-mêmes, qui s'appliquent à l'action comme elles s'appliquent à la pensée. La morale est une logique de l'action, comme la logique est une morale de pensée. L'activité rationnelle est une" (ebd: 36f). Religion, Moral und Wissenschaft konvergieren bei der Bewusstwerdung der Normen des Denkens, die Gott, die Gerechtigkeit und Wahrheit verkörpern. "Au fur et à mesure de sa réflexion sur elle-même la pensée se transforme et s'épure" (ebd: 33). Die Erforschung der unpersönlichen Normen und ihrer Entstehung wird das allgemeine Forschungsprogramm von Piaget. Die ontogenetische Entwicklung und die Wissenschaftsgeschichte basieren auf dem gleichen Evolutionschema: "L'intériorisation de l'analyse spirituelle marche de pair avec l'extériorisation de l'invention scientifique" (Piaget 1930/3: 22). Damit entspricht der Immanentismus der höchsten Form des Denkens und der Moral, denn "l'immanentisme apparaît comme le prolongement de l'élan de spiritualisation qui marque toute l'histoire de la notion de divin. Du Dieu transcendant, doué de causalité surnaturelle, au Dieu purement esprit de l'expérience immmanente, le même progrès nous paraît s'accomplir que du Dieu semi-matériel des religions primitives au Dieu métaphysique. Or - et là est l'essentiel, à ce progrès dans l'ordre de l'intelligence correspond un progrès moral et social, c'est-à-dire, en fin de compte, un affranchissement de la vie intérieure" (ebd: 53f). Der Ursprung von Piagets Kognitionspsychologie ist folglich theologischer Natur.

Paradoxerweise versuchten die Pädagogen in den 60er und 70er Jahren, seine deterministische Entwicklungspsychologie didaktisch umzusetzen. Und in den 90er Jahren rezipierten die Didaktiker seine angeblich konstruktivistische Erkenntnistheorie, die ebenso ambivalent ist wie die Lerntheorie. Piaget dachte zwar konstruktivistisch, wenn er die kognitive Entwicklung des Kindes und die Forschungstätigkeit des Wissenschaftlers reflektierte. Aber gleichzeitig ging er von einer objektiv gegebenen Realität aus, der sich die mentalen Konstruktionen aufgrund der Erfahrungen zwangsläufig annähern müssen. Diesem erkenntnistheoretischen Doppelstatus entsprechend ist das gesamte Werk Piagets durchzogen von der Ambivalenz zwischen dem Monismus (Reduktion des Geistes auf ein physisches Phänomen) und einem dualistischen Verständnis (der Geist hat eine eigenständige Realität: bei Piaget die universal gültigen, göttlichen Normen). Mit dem Postulat der psycho-physiologischen Isomorphie versuchte Piaget diesen Antagonismus zu überwinden, scheiterte aber damit.

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